DV19 - Kolping DV Speyer

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„Für eine Europäische Union, die den Menschen dient“
P. Friedhelm Hengsbach analysiert die Situation der Europäischen Union und entwirft die Vi-sion einer „solidarischen national-europäischen Doppeldemokratie“ – Referat vor Führungs-kräften des Kolpingwerkes in Ludwigshafen
Kaiserslautern / Ludwigshafen (24.05.2019 / ko-tb) – „Was ist los mit dir, Europa?“ Papst Fran-ziskus hat diese Frage den Repräsentanten der Europäischen Union vor drei Jahren in Rom gestellt, als ihm der Karlspreis der Stadt Aachen verliehen wurde. P. Prof. Dr. Friedhelm Hengs-bach SJ (Ludwigshafen) griff sie in seinem Vortrag vor der Diözesanversammlung des Kol-pingwerkes im Pfarrzentrum St. Albert, Ludwigshafen-Pfingstweide, auf und fügte eine weitere Frage hinzu: „Zerfasert die EU im Gerangel der Nationen?“
In seiner Einführung zu Vortrag und Podiumsgespräch wies der stellv. Diözesanvorsitzende des Kolpingwerkes, Matthias Donauer (Kindsbach), daraufhin, dass die politische Ordnung Euro-pas, deren Kern die Europäische Union ist, von vielen Menschen nicht mehr fraglos hingenom-men, die Union unter vielen Aspekten kritisiert werde und ein starker Trend zur Renationali-sierung erkennbar sei, auch in Deutschland. Die Europäische Union sei ein einzigartiges poli-tisches Projekt, das als Friedensprojekt gegründet worden sei und wirklich Freiheit und Frieden gebracht habe, nach 1989 auch den Völkern im Osten. Diese Errungenschaften gelte es zu ver-teidigen.
P. Hengsbach setzte bei der aktuellen Wahl zum Europäischen Parlament an, das aus einer re-lativ unbedeutenden Rolle herausgewachsen und seit einigen Jahren mehr und mehr in die Ent-scheidungsprozesse der politischen Organe der Union einbezogen worden sei. In den Rang ei-ner souveränen Repräsentanz der Bürgerinnen und Bürger von Nationalstaaten und zugleich europäischen Bürgerinnen und Bürgern sei es indessen immer noch nicht gerückt. P. Hengsbach lehnte die Auffassung von einer „Schicksalswahl“ ab. Es gehe nicht um Krieg und Frieden. Die Parlamentswahl bedrohe nicht die Existenz der christlichen oder gar der modernen Zivilisation. Um die EU zu verstehen, müsse man durch das „Gestrüpp des europäischen Alltags“. Der Re-ferent zog einen weiten Bogen vom Brexit über die „gelben Westen“, vom Nord-Süd-Konflikt in der Union über die West-Ost-Entfremdung bis zu den „blutigen Grenzen“, mit denen sich Europa „schütze“ vor der Migration v.a. aus Afrika. Er kritisierte das „marktradikale Erbe“ der EU, die Auffassung, der Markt sei die Grundform menschlicher Beziehungen, dabei sei der Markt ein „Machtgeschehen“. Er kritisierte weiter den Vorrang der Geldsphäre vor der Real-wirtschaft und die fehlkonstruierte Währungsunion. Die Aussage der Bundeskanzlerin, dass die EU keine Sozialunion sei, werde durch eine Lektüre der europäischen Verträge widerlegt, in denen die Solidarität der Mitgliedsländer und die Angleichung der Lebensverhältnisse in den unterschiedlichen Regionen als Ziel formuliert ist. Nachdrücklich setzte sich P. Hengsbach für die Verwirklichung einer europäischen Sozialunion ein. Mit der Europäischen Säule sozialer Rechte 2017 sei durch die Regierungen der Mitgliedsstaaten bereits eine Vision formuliert wor-den. Auch die deutsch-französische Achse sei brüchig geworden. Es bildeten sich gegen eine deutsch-französische Hegemonie Anti-Koalitionen peripherer Ländergruppen.
Der aktuelle Wahlkampf sei vergiftet durch ein überzogenes Lagerdenken. Pro-Europäer kämpften gegen Anti-Europäer, Liberale gegen Autoritäre, die Parteienkonstellation links oder rechts von der Mitte attackiere Populisten, Nationalisten und Rechtsextreme. Verfeindete Grup-pen stimmten in das Kampfgeschrei ein: „Wir, und wir allein“ gegen „Euch, die Fremden“. Feindliche Sprachspiele erzeugten dogmatische Erstarrung. Sie verhinderten, gelöst alternative Zielsetzungen zu erwägen und auf die Anliegen der Gegner hinzuhören - wenigstens auf den Kern dessen, worin sie Recht haben. Ebenso wenig könne der Versuch, fremde Argumente anzuhören und zu erwägen, ohne ein erhebliches Maß an Selbstreflexion und Selbstkritik ge-lingen. Zumal die so genannten demokratischen Parteien selbst Bestandteil jener Verhältnisse
sind, in die sie die Anderen am Rand, die ihnen fremd vorkommen, hineingedrängt haben. Of-fenbar, so der Referent weiter, habe der Drang der ehemaligen Volksparteien in die Mitte und die Tendenz, ihre Parolen einander anzugleichen, zu den sozialen und kulturellen Rissen ge-führt und zum Zerfasern der Gesellschaft beigetragen. „Für die Bürgerinnen und Bürger, die wählen gehen, geht es nicht um Krieg oder Frieden, nicht um Bleiben oder Austreten aus der EU, sondern um eine andere Union, die den Menschen dient, Wirtschaft und Gesellschaft in die natürliche Umwelt einbindet“, sagte P. Hengsbach wörtlich.
Gemäß einer Studie, die auf repräsentativen Umfragen in 14 Mitgliedsländern beruht, sehe eine Mehrheit der Befragten zwischen der eigenen nationalen Identität und ihrem Selbstverständnis als europäischen Bürgerinnen und Bürgern keinen Gegensatz. Nur ein Viertel sehe ihre natio-nale Identität als vorzugswürdig an. Nicht nur die europäischen Bürgerinnen und Bürger, son-dern auch die so genannten Populisten und Nationalisten wollten keine Zerschlagung der EU. Sie forderten eine andere Organisation und veränderte Institutionen. Extreme parteipolitische Richtungen unterschieden sich darin, dass die einen sich dagegen sträubten, Kompetenzen zent-ral zu bündeln und nationale Parlamente intensiver zu kontrollieren, während die anderen eine Art Vereinigte Staaten von Europa im Sinn einer europäischen Republik herbeisehnten.
P. Prof. Dr. Hensbach skizzierte einen „Neustart der EU“: Die Wahlen zum europäischen Par-lament sollten auf längere Sicht hin dazu beitragen, dass der Schlamassel zweier Verfahren aufgelöst werde, der die Entscheidungsprozesse der EU durchkreuzt und häufig blockiert. Die von Angela Merkel formulierte „Gemeinschaftsmethode“, nämlich die ordentliche Gesetzge-bung unter Beteiligung von Kommission, EU-Parlament und Ministerrat konkurriere mit der „Unionsmethode“, den einstimmigen Beschlüssen des Europäischen Rates, der zwar über keine Gesetzgebungskompetenz verfüge, sich aber inzwischen die Funktion einer Quasi-Exekutive angemaßt habe. Ein vergleichbarer Schlamassel entstünde durch das Nebeneinander von vier kollektiven Akteuren, die jeweils für sich eine Letztkompetenz beanspruchten: erstens des Eu-ropäischen Rats; zweitens jener Staaten der Eurozone, die völkerrechtliche Verträge jenseits des Unionsrechts vereinbaren; drittens der Organe der ordentlichen Gesetzgebung; und viertens der Europäischen Zentralbank als letzten Stabilitätsankers der Währungs- und Sozialunion. Vor einer EU der zwei Geschwindigkeiten mit einer Kernzone wirtschaftlich leistungsstarker Län-der und einer Peripherie leistungsschwacher Länder, warnte P. Hengsbach. Sie beschwöre viel-mehr ein Szenario herauf, das in Konflikten und Trennungen enden würde.
„Wieso zerbricht die EU nicht trotz ihres Krisenmodus als eines Dauerzustands?“, fragte der Jesuit. Wegen einer „schwingenden Architektur“, die verhindere, dass Verknotungen nicht wie vom großen Alexander durchgehauen, sondern nachsichtig und behutsam aufgelöst werden. Aber auf lange Sicht leide darunter die Rechtssicherheit und habe eine gleitende Entfremdung der Mitgliedsländer zur Folge. Die EU sei ein „Staatenverbund“, eine Mehrebenen-Demokratie, „ein sich ergänzendes, ineinandergreifendes System von Demokratien verschiedener Reich-weite und Zuständigkeiten, eine national-europäische Doppeldemokratie“ (W. Schäuble). Trä-ger der ursprünglichen Souveränität seien die Nationalstaaten, die einen Teil ihrer Kompeten-zen und deren Reichweite an ein supranationales Rechtssubjekt übertragen haben. Deshalb müsse die Zuordnung der Kompetenzen zwischen der supranationalen und nationalen Ebene fair ausbalanciert werden und bleiben. Eine solche „freie Republik souveräner Staaten“ sei nach Immanuel Kant die Gewähr ewigen Friedens. Deshalb sei auf längere Sicht eine Verfassung für den Fortbestand der EU unverzichtbar. Nationale und europäische Bürgerinnen und Bürger wählten in grenzüberschreitenden Wahlen ein europäisches Parlament als ihre souveräne Re-präsentanz. Dies wähle eine Exekutive. Eine Länderkammer aus staatlichen Organen und zivil-gesellschaftlichen Vertretern sowie ein Gerichtshof seien weitere EU-Organe. „Der Charme des Nationalen liegt in der primären Souveränität, in der Garantie der Sicherheit des Rechts, Grund- und Menschenrechte zu haben. Die Anziehungskraft der Region liegt in der vom Boden her organisch gewachsenen emotionalen Bindung der Bürgerinnen und Bürger.“ Europa habe eine Zukunft, schloss P. Friedhelm Hengsbach seinen Vortrag.
Im Podiumsgespräch mit Matthias Donauer und Mitgliedern der Diözesanversammlung kon-kretisierte und vertiefte P. Hengsbach einige seine vorgelegten Gedanken. Michael Detjen (Kai-serslautern), Mitglied des Europäischen Parlamentes und Schüler von Prof. Friedhelm Hengs-bach, befürwortete eine Europäische Sozialunion und rief die Delegierten auf, an der Wahl zum Europäischen Parlament teilzunehmen und in ihren Kolpinggemeinschaften, Kirchengemein-den und Familien dafür zu werben. Diözesanvorsitzender Andreas W. Stellmann dankte P. Hengsbach herzlich und überreichte ihm als Präsent ein Buch über „27 Kolpingsfamilien in Deutschland“.
Das Kolpingwerk zählt in der Diözese Speyer 5.400 Mitglieder in 50 örtlichen Gemeinschaften, den Kolpingsfamilien. 900 Mitglieder sind unter 30 Jahre alt und gehören der Kolpingjugend an. In Deutschland hat der Verband, der sich auf den Seligen Adolph Kolping und seine Ka-tholischen Gesellenvereine zurückführt, über 230.000 Mitglieder in 2.500 Kolpingsfamilien. Weltweit zählt das Kolpingwerk in 61 Ländern über 420.000 Mitglieder in über 7.000 Kol-pingsfamilien. Sein Wahlspruch lautet: „Verantwortlich leben – Solidarisch handeln.“
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